SPAR, Berglandmilch, VIVATIS und SIPCAN warnen: Gravierende Mängel bei Nutri-Score Lebensmittelkennzeichnung im Fokus Wissenschaftliches Gutachten des vorsorgemedizinischen Instituts SIPCAN zeigt schwerwiegende Mängel des Nutri-Scores auf: - Süß-, Farb- und Konservierungsstoffe, Palmöl uvm. wirken sich bei der Bewertung nicht negativ aus - Gesundheitsrelevante Lebensmittelbestandteile wie sekundäre Pflanzenstoffe und Probiotika werden bei der Berechnung nicht berücksichtigt - Parameter wie Verarbeitungsgrad, Bio-Qualität oder auch gentechnikfrei werden ignoriert Umfrage: Jeder Dritte kennt Nutri-Score nicht 74 Prozent der Befragten ist der Nutri-Score noch nicht aufgefallen bzw. wissen nicht, was dieser bedeutet SPAR, Berglandmilch, VIVATIS und SIPCAN fordern umfassende Überarbeitung des Nutri-Scores SPAR-Vorstand Mag. Markus Kaser warnt: „Eine mögliche Einführung des Nutri-Scores in Österreich liegt auf dem Tisch und wir sehen, dass dieses sehr mangelhafte System die Konsumentinnen und Konsumenten in die Irre führen wird, anstatt sie bei einer gesunden Ernährung zu unterstützen. Wir brauchen daher dringend eine Überarbeitung des Nutri-Scores, einen ergebnisoffenen Diskurs und vielleicht sogar ein gänzlich neues Kennzeichnungssystem.“ Der Nutri-Score: Britisch-Französisches System für ganz Europa? Das System Nutri-Score erfand die französische Gesundheitsbehörde auf Basis des Nährwertprofils der britischen Food Standards Agency. Der Nutri-Score liefert eine Gesamtbewertung eines verarbeiteten Produkts, die auf einer Skala von A (dunkelgrün) bis E (rot) dargestellt wird. Die Gesamtpunkteanzahl ergibt sich aus der Subtraktion der Summe der guten Punkte (für Proteine, Ballaststoffe, Obst, Gemüse, Nüsse, etc.) von der Summe der schlechten Punkte (für Energie, Zucker, ungesättigte Fettsäuren, Salz). Berechnet wird immer auf 100 Gramm bzw. 100 Milliliter. „Wir Österreicher haben eine Vorreiterrolle bei der Gentechnikfreiheit von Lebensmitteln, haben Pionierarbeit bei den biologischen Produkten geleistet und sind weit über unsere Grenzen bekannt für unsere qualitätsvollen Lebensmittel. Wir haben große Erfahrung, wenn es um die Qualität von Lebensmitteln geht und wir sagen daher ganz deutlich, dass wir kein Kennzeichnungssystem übernehmen wollen, das nur einen Bruchteil aller Aspekte der Lebensmittelqualität berücksichtigt“, stellt Mag. Kaser fest. Verwirrung ist vorprogrammiert Der Nutri-Score soll in der Theorie über den Wert eines Produkts im Vergleich zu anderen Produkten in derselben Lebensmittelkategorie informieren, sagt aber nichts darüber aus, ob das Produkt gesund oder ungesund ist. Das heißt, die Konsument:innen dürfen nur Pizza mit Pizza und Jogurt mit Jogurt vergleichen. „In der Theorie klingt das Nutri-Score-Kennzeichnungssystem logisch, aber in der Praxis besteht die Gefahr, dass die Menschen die Farbgebung mit ‚essen‘ und ‚nicht essen‘ assoziieren“, warnt Univ.-Prof. Prim. Dir. Dr. Friedrich Hoppichler, der den Nutri-Score in einem wissenschaftlichen Gutachten unter die Lupe genommen hat und ergänzt weiter: „Die Ausklammerung von Süßstoffen sehe ich besonders kritisch, da der Nutri-Score quasi dazu auffordert, statt Zucker Süßstoffe zu verwenden, um eine bessere Bewertung zu erhalten. Wir wissen aber aus Studien, dass es einen Zusammenhang zwischen einem regelmäßigen Konsum süßstoffhaltiger Lebensmittel und erhöhten Gesundheitsrisiken, von Bluthochdruck bis hin zu Diabetes, gibt.“ SIPCAN Gutachten zeigt Mängel des Nutri-Scores auf: • Portionsgröße: Die Nutri-Score-Angaben beziehen sich immer auf jeweils 100 g bzw. 100 ml eines Produkts und berücksichtigen somit nicht die Portionsgröße. Dennoch verzerren freiwillige, oft unrealistische, zu kleine Portionsangaben (z.B. 1/3 Pizza) durch den Hersteller das Bild. Die Berechnung pro 100 ml bzw. 100 g führt außerdem zu schlechten Bewertungen für natürliche Produkte wie z.B. Olivenöl oder Butter, von denen keine großen Mengen verzehrt werden. Dadurch kommen viele Produkte scheinbar besser weg, als man vermuten würde und umgekehrt. • Kennzeichnung für Kinder nicht passend: Der Bezugswert auf der Verpackung gilt für Erwachsene. Das ist insbesondere bei Produkten, die sich in der Aufmachung speziell an Kinder richten, problematisch. •Fehlende Transparenz für Konsument:innen: Ohne Kenntnis der Rezeptur ist der Nutri-Score für die Menschen nicht berechenbar und somit auch nicht nachvollziehbar. •Vergleichbarkeit nur in der jeweiligen Produktgruppe: Es besteht die Gefahr, dass Konsument:innen verleitet sind, alle Produkte miteinander zu vergleichen. Das kann dazu führen, dass eine Fertigpizza mit einem grünen A gegenüber Nüssen mit einem orangenen D als gesünder betrachtet wird. •Zuckergehalt zu wenig berücksichtigt: Die WHO empfiehlt eine maximale Zuckeraufnahme von 50 Gramm pro Tag. Derzeit ergibt ein Zuckergehalt von 9 g / 100 g und somit 1/5 der maximalen Tagesmenge, laut Nutri-Score-Berechnung nur 2 negative Punkte (von zehn möglichen). •Süßstoffe, Farb- und Konservierungsstoffe gar nicht berücksichtigt: Obwohl Studien darauf hindeuten, dass Süßstoffe ebenfalls zu erhöhten Gesundheitsrisiken wie Zunahme des Körpergewichts und Körperfettanteils, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ 2 Diabetes mellitus bis hin zu Krebserkrankungen führen können, werden diese bei der Berechnung des Nutri-Scores nicht berücksichtigt. Im Gegenteil, die Produzenten werden durch die Nichtberücksichtigung quasi ermuntert, Zucker durch Süßstoffe zu ersetzen, um eine bessere Bewertung zu erlangen. •Gesundheitsrelevante Lebensmittelbestandteile werden ignoriert: Polyphenole und andere Phytonährstoffe oder Probiotika werden durch den Nutri-Score nicht bewertet •Verarbeitungsmerkmale sind irrelevant: der ökologische Anbau oder auch die Schadstoffbelastung bzw. die Verwendung von beispielsweise Pflanzenschutzmitteln oder gentechnikveränderten Zutaten wird ebenso wenig berücksichtigt, wie der Grad der Verarbeitung, wobei bereits medizinisch festgestellt wurde, dass ein hoher Verzehr hochverarbeiteter Lebensmittel eine Reihe negativer gesundheitlicher Auswirkungen mit sich bringen kann. •Öle wie Olivenöl werden mit C bewertet und damit aus ernährungswissenschaftlicher Sicht falsch eingeteilt, da diese einen wichtigen Bestandteil einer gesunden Ernährung darstellen. •Berechnungen widersprüchlich: Laut Health-Claims-Verordnung darf ein Produkt erst ab 3 g /100 g als Ballaststoffquelle und ab 6 g / 100 g als ballaststoffreich bezeichnet werden. Der Nutri-Score vergibt jedoch schon ab 2,9 g / 100 g Positivpunkte. Umgekehrt werden ab 4,7 g / 100 g keine weiteren Positivpunkte vergeben. Meinungsumfrage: Nutri-Score in Österreich nicht bekannt In einer vom Meinungsforschungsinstitut Marketagent erstellten Umfrage wurden Ende Februar 500 Menschen in Österreich zum Nutri-Score bzw. Kennzeichnungen auf Lebensmitteln befragt. Nur 11,8 Prozent achten beim Einkauf auf den Nutri-Score. 33 Prozent der Befragten kennen den Nutri-Score nicht. 74 Prozent der Befragten haben den Nutri-Score noch nicht wahrgenommen bzw. wissen nicht, was dieser aussagt. „Dies sind alarmierende Zahlen, wenn man berücksichtigt, dass es sich beim Nutri-Score um ein sehr komplexes Kennzeichnungssystem handelt, das nur auf den ersten Blick mit seinen Farben simpel wirkt“, erläutert Mag. Kaser und führt weiter aus: „Das bedeutet, dass hier intensiv und umfassend informiert werden müsste, um die Menschen nicht in die Irre zu führen“. Denn, so die Meinungsumfrage, auch unter jenen Menschen, die angaben den Nutri-Score zu kennen und zu wissen, was dieser bedeutet, war lediglich einem Drittel bekannt, dass der Nutri-Score nur innerhalb einer Warengruppe verglichen werden darf. Nutri-Score: Auch größte Molkerei Österreichs hat massive Bedenken DI Josef Braunshofer, Generaldirektor der Berglandmilch, unterstreicht die Kritik: „Der Nutri-Score mag für hochverarbeitete Lebensmittel seine Berechtigung haben. Milchprodukte sind überwiegend Grundnahrungsmittel und hier erachten wir die Nutri-Score Beurteilung als zu einseitig. Viele Aspekte einer umfassenden Lebensmittelqualität, wie z.B. biologische Produktion, werden dabei völlig ausgeblendet. Zudem werden die Produkte nicht nach Portionsgrößen, sondern pro 100g berechnet, wodurch ein natürliches Produkt wie die Butter eine schlechte Bewertung erhält. Ein System, dass davon ausgeht, dass ein Mensch 100g Butter auf einmal isst, sollte aus unserer Sicht nochmals überdacht werden.“ Alternativen und Verbesserungsvorschläge zum Nutri-Score Der Nutri-Score wurde 2017 als Front-Of-Package Kennzeichnung veröffentlicht. „Alleine in den letzten fünf Jahren haben wir in der Ernährung und der Medizin sehr viele neue Erkenntnisse gewonnen. Bestes Beispiel dafür sind die Erkenntnisse rund um die gesundheitlichen Auswirkungen von Süßstoffen und all diese Forschungsergebnisse finden beim Nutri-Score aus unserer Sicht deutlich zu wenig Berücksichtigung. Der Nutri-Score sollte sich daher unbedingt an den aktuellen ernährungswissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnissen orientieren und auch dementsprechend weiterentwickelt werden“, fordert Prof. Hoppichler. Alternativen gibt es seiner Meinung nach bereits: „Wir sehen, dass es neuere und treffsicherere Kennzeichnungssysteme wie den Food Compass Score (FCS) gibt. Der FCS umfasst 54 Gesundheitskriterien aus neun Bereichen, bewertet die Lebensmittel produktgruppenübergreifend von eins bis 100 und berücksichtigt auch den Verarbeitungsgrad. Vielleicht ist dieses Kennzeichnungssystem auch noch nicht der Weisheit letzter Schluss, aber es zeigt, dass es möglich ist, mit einem Algorithmus deutlich treffsicherer zu sein und deutlich mehr relevante Aspekte miteinzubeziehen.“ Größter heimischer Lebensmittelproduzent, VIVATIS, warnt Mag. Gerald Hackl, Vorsitzender der Fachvertreter der Nahrungs- und Genussmittelindustrie der WKO OÖ und Vorstandsvorsitzender der VIVATIS Holding AG spricht sich, ebenso wie der Fachverband selbst, gegen den Nutri-Score aus: „Alle Bestrebungen, die unternommen werden, um das Ernährungsverhalten der Konsumentinnen und Konsumenten nachhaltig zu verändern, unterstütze ich natürlich. Ein wertendes System, das eine Einteilung in „gute“ und „schlechte“ Lebensmittel vornimmt, ist meiner Ansicht nach aber nicht der richtige Zugang. Wesentliche Parameter für eine objektive Beurteilung eines Lebensmittels werden bei der Nutri-Score-Kennzeichnung aktuell nicht berücksichtigt. Das führt zu einer Irreführung und Fehlleitung der Konsumentinnen und Konsumenten und sorgt darüber hinaus für eine große Zusatzbelastung für die vielfach mittelständischen Unternehmen der österreichischen Lebensmittelindustrie. Ich appelliere deshalb an die Verantwortlichen, dieses System nochmals zu überdenken!“ Appell: Überarbeitung des Nutri-Scores dringend notwendig „Wir stehen der Kennzeichnung in Form des Nutri-Scores kritisch gegenüber, weil Konsument:innen durch die Simplifizierung fehlgeleitet werden könnten. Wir fordern daher eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nutri-Score und die Einbindung aller Partner in den Entscheidungsprozess“, so Mag. Markus Kaser und ergänzt abschließend: „Denn wir müssen auch über Rahmenbedingungen des Nutri-Scores diskutieren. Der Nutri-Score ist als Unionsmarke in allen Mitgliedsstaaten geschützt. Wer ihn benützen möchte, muss dies bei der Agence nationale de santé publique, einer Organisation des französischen Gesundheitsministeriums anmelden, da diese den Standard für die Verwendung des Nutri-Score-Logos erlassen hat. Das heißt, der Produzent berechnet den Nutri-Score selbst und muss diese Berechnung und die Rezeptur einzig gegenüber der französischen Behörde offenlegen und ansonsten niemandem. Eine weitere Offenlegungspflicht zum Beispiel österreichischen Behörden gegenüber besteht derzeit nicht.“